1. April 2018

"Kinder werden verwaltet"


Behinderte und schwache Schüler werden seit zehn Jahren in normalen Klassen unterrichtet. Integration nennt sich das und wird, je nachdem, ob man mit Bildungsbeamten, Lehrern oder Eltern redet, komplett anders beurteilt.

Davonrennen, nachhumpeln, Weltwoche, 22.3. von Daniela Niederberger


In der Theorie klingt es grossartig. Beamte der Schulämter und Dozenten von pädagogischen Hochschulen sprechen vom «Menschenrecht auf Integration» und von der «Teilhabe aller». So auch an einer Veranstaltung von Pro In­firmis, die jüngst in Winterthur stattfand und gut besucht war. Filmausschnitte sollten ­zeigen, wie schön das funktioniert. Im Dokumentarfilm «Elenas Chance» sah man, wie die muntere Elena, ein Mädchen mit Down-­Syndrom, in der Klasse und im Turnen mitmacht und auch gerügt wird, wenn sie beim Aufräumen schlüüfe will. Im Unterricht sitzt eine Heilpädagogin mit ihr am Pult.
In einem zweiten Film ging es um die stark körperbehinderten Zwillinge Julian und Ma­rius, die in eine normale erste Klasse gehen. Sie können nur mühsam sprechen, sagen aber in die Kamera, dass sie etwas lernen und vor­wärtskommen wollen. Der schwerer behinderte ­Julian meint zwar nach einer Schnupperwoche in der Sonderschule, dort sei es entspannter – aber eben, er wolle vorwärtskommen. Die Mutter, eine Unternehmensberaterin, möchte un­bedingt dem Wunsch der Buben nachkommen; der Vater wäre eher für die Sonderschule.
Der zweite Film hinterlässt denn auch einen zwiespältigen Eindruck. Wie geht es den Buben wirklich? Kommt der Wunsch, in die Regelschule zu gehen, tatsächlich von ihnen oder von der Mutter? Diese Fragen wurden am Anlass nicht gestellt, man feierte die Beispiele als gelungene Teilhabe und klatschte eifrig.

Dabei sagte die Vertreterin der kantonalen ­Elternmitwirkungsorganisation KEO, Gabriela Kohler, etwas, was zu denken geben müsste. Bei einer Umfrage unter Eltern mit behinderten Kindern kam nämlich heraus: 72 Prozent finden es schlecht, dass Klein- und Sonderklassen abgeschafft wurden. Viele Eltern sind überzeugt, es wäre für einige Kinder besser, in spe­ziellen Klassen unterrichtet zu werden. Auf das Votum wurde nicht eingegangen.

Kinder verwalten statt unterrichten

Wie ist es für einen Lehrer, alle Kinder – von unaufmerksam und behindert bis hochintel­ligent – in einer Klasse unterrichten zu müssen? «Es bleibt zu wenig Zeit und Energie für die Kinder», so Marcel Blum*, Primar­lehrer im Mittelland. In seiner Klasse, einer gemischten 1. und 2. Klasse, hat er 21 Kinder. In erster Linie würden die Kinder verwaltet. «Sie werden in Förderstufen eingestuft. Dazu braucht es ­Abklärungen beim Schulpsycho­logen. Das ist alles langwierig, und es hat mit Lernen noch nichts zu tun. Das Verwalten und Einordnen der Kinder wird fast wichtiger als der Schul­alltag. Könnte ich in der Zeit in ­kleinen Gruppen unterrichten, hätte ich mehr erreicht.»

Stattdessen geben sich Heilpädagoginnen, Sprachlehrerinnen für Ausländerkinder, bisweilen eine Ergotherapeutin und eine Logo­pädin die Klinke in die Hand. «Für die Kinder und mich bringt das viel Unruhe.»

Der Fächer geht in seiner Klasse, was Alter und Fähigkeiten angeht, weit auf. Und nun soll er jedes Kind dort abholen, wo es steht. «Binnendifferenzierung und Umgang mit Heterogenität» heisst das im Pädagogen-­Latein. Dazu finden viele Weiterbildungskurse statt. Lehrer Blum sagt: «Ich soll den Lernstoff so differenzieren, dass jedes Kind auf seinem Entwicklungsstand angesprochen wird. Ich habe die Energie nicht, das zu tun. Wenn ich es täte, könnte ich nicht ausreichend persönlich auf das einzelne Kind eingehen.»
«Das eine Kind rechnet noch im Zehner-, das andere schon im Hunderterraum, eines hat Mühe mit Addieren, das andere mit Malrechnen. Ich müsste jede Entwicklungsstufe ab­decken. Doch Erst- und Zweitklässler sind noch nicht so selbständig, dass sie die Lerninhalte, die man für sie präpariert, selber bearbeiten können. Sie sind schnell abgelenkt. Sie schlüüfed, schauen beim Banknachbarn ab oder lassen das Blatt verschwinden. Bei 21 Kindern habe ich, wenn ich mich an die geforderte Binnendif­ferenzierung halte, den Überblick nicht mehr. Meine Pflicht als Lehrer ist es, jedem Kind gerecht zu werden. Das kann ich so nicht.»

Lehrer Blum denkt, Klein- und Einführungsklassen wären für die Kinder besser. Auch von Kolleginnen und Kollegen hört er, dass sie an Grenzen stossen. Kritik wird aber kaum ge­äussert. «Viele Lehrer haben Angst, zu sagen, ‹Ich werde nicht jedem Kind gerecht.› Sie wollen nicht als schlechte Berufsleute dastehen. Binnendifferenzierung gilt heute als professionell.» Marcel Blum hatte einmal ein behindertes Kind in der Klasse, einen Jungen mit einer Muskelkrankheit, der zeitweise im Rollstuhl sass. Das Kind war kognitiv und sprachlich begabt, das war nicht das Problem. Das Problem war die Grob- und Feinmotorik. Konkret heisst das: die Pausen und das Turnen. «Jungen in dem Alter messen sich untereinander. Im Turnen war er wie selbstverständlich ausgeschlossen. Was mache ich da als Lehrer? Ich mache Übungen, die für die anderen Kinder nicht herausfordernd sind. Eine Weile geht das, dann nicht mehr.»

Der Lehrer musste dem Kind die Turn­schuhe an- und ausziehen. Eigentlich hätte ­dafür die Ergotherapeutin kommen müssen. «Und dann wartet sie eine Turnlektion lang, bis sie ihn wieder ausziehen kann? Und wird dafür bezahlt? Das kann es ja nicht sein.»
Auch musste der Junge öfter getragen werden, weil im Schulhaus Rampen fehlten. «Dabei haben wir in der Gemeinde ein Schulheim, wo alle Einrichtungen und die entsprechenden Fachkräfte vorhanden wären», sagt Blum.

Irgendwann ging es nicht mehr. «Ich be­dauerte sehr, dass ich als Klassenlehrperson viel zu wenig auf den Jungen eingehen konnte, ohne dass ich meine Pflicht gegenüber den anderen Kindern zu stark vernachlässigt hätte. Dieses Dilemma konnte ich nicht lösen.»
Der Bub tat ihm leid. «Das, was ich bieten kann, und die Umgebung einer Regelklasse entsprechen dem Bedürfnis eines solchen Kindes überhaupt nicht. Es hat eine so kurze ­Lebenserwartung. Da würde ich in den Wald gehen mit ihm; Bäume bestimmen und ­Bodenmandalas machen. Aber sicher würde ich es nicht ins Turnen schicken und es dem Vergleich mit den anderen aussetzen. Dort kann es doch nie und nimmer mithalten.»
Es gab auch Erfolgsmomente: Der Knabe war im Rechnen flink. Doch das Negative überwog. «Es war ganz trivial. In der Pause rannten ihm die anderen davon, und er versuchte nachzuhumpeln. Er hätte dabei sein wollen und konnte es wegen seines Körpers nicht. Das prägt sich ein. Das ist für das Selbstwertgefühl nicht gut.»

Integration als gesunde Abhärtung?

Lehrer Blum glaubt, die Sonderschule wäre der humanere Weg. «Dort haben die Kinder ähnliche Schicksale, sie verstehen sich, sehen die Welt mit ähnlichen Augen. Der ständige Vergleich mit den Gesunden fällt weg.»

Anderer Ansicht ist Christina Lee, zuständig für die schulische Integration in Winterthur Nord. Es stimme zwar, dass die «Auseinandersetzung mit Normalität und Anderssein in ­integrierten Settings eine grosse Herausforderung für Kinder und Jugendliche mit einer Behinderung» sei. «Aber gleichzeitig lernen sie in der Schule, mit diesem Lebensthema umzugehen.» Integration als gesunde Abhärtung?

Le hat selber einen körperbehinderten Sohn, der mittlerweile erwachsen ist. Er ging in die Sonderschule, wäre aber gern mit seinen Freunden aus dem Dorf zur Schule gegangen. «Das war ein Riesenthema. Er wollte seine Freunde selber aussuchen und nicht reduziert werden auf einen kleinen Kreis, so, wie wir das auch wünschen. Er wollte nicht in die Behinderten­ecke gedrängt werden.» Nach der Schulzeit arbei­tete er in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung. «‹Wenn ich schon da arbeite›, sagte er, ‹will ich wenigstens in der Freizeit Kontakte mit Menschen ohne Behinderung›.» Ausser mit seinem besten Freund, der die gleiche Beeinträchtigung hat. «Sonst bin ich lieber allein.»

Auffallend ist die Abwertung des Behindertseins durch die Propagandisten der Integra­tion oder durch Behinderte selber. «Nicht in die Ecke drängen lassen.» Das tönt nach Schand­ecke. Da gibt es ein gut und weniger gut. Dabei tun sich in allen Gesellschaften die Gleichen zusammen. Es ist weniger anstrengend. Albaner mit Albanern, Studenten mit Studenten, die Reichen in St. Moritz mit anderen Reichen.

Mittlerweile nimmt der junge Mann an ­einem Pilotprojekt der Pädagogischen Hochschule Unterstrass teil, die Behinderte zu Assistenzlehrern ausbildet. Da ist er eine Ausnahme. Gabriela Kohler von der Elternorganisation KEO hört oft von Eltern mit behinderten Kindern, dass die Integration in der Schule zwar ­einigermassen geklappt hat – «doch dann, bei der Lehrstellensuche, kommen sie auf die Welt». Sie hoffen dann natürlich auf eine Stelle im ersten Arbeitsmarkt, so Koller, «aber der ist noch nicht bereit».

Für Lehrer Blum hat der «Zwang zur Inte­gration mehr mit Ideologie zu tun als mit ­einem Bedürfnis der Kinder». Die Erwachsenen machten ihre Probleme zum Problem der Kinder. Doch: «Kinder sind im Hier und Jetzt. Sie sind zufrieden, wenn es dort, wo sie sind, gut ist.» Für Kinder sei die Beziehung zur Lehrperson das Wichtigste. «Kann ich ihr ­vertrauen, ist sie mir wohlgesinnt, versteht sie mich, erkennt sie das Wesentliche meiner ­Person, damit sie mich wirklich fordern und fördern kann? Das alles braucht Zeit für Be­ziehung.»
* Name geändert


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