5. Dezember 2017

Die Tagesschule als Antwort

Die Tagesschule hat in der Schweiz keine Tradition. Aber sie hat das Potenzial, mit den heute absehbaren Anforderungen an die Volksschule klarzukommen.
Staatsschule oder Volksschule der Zukunft? NZZ, 5.12. von Walter Bernet


Wo in der Bildungspolitik mit Studien gestritten wird, geht es oft um die Verhinderung von Innovation. Neues hat in der Regel untersuchungstechnisch einen entscheidenden Nachteil: Es ist noch unausgereift. So geht es zurzeit dem Modell der Tagesschule, das in der Schweiz keine Tradition hat. Trotzdem kann es auf Anhänger zählen. «Man wird in hundert Jahren noch von diesem Tag erzählen», sagte der Zürcher Stadtrat Gerold Lauber im vorletzten Sommer, als er eine Pionierschule des städtischen Projekts Tagesschule 2025 eröffnete. Und als Bildungsdirektorin Silvia Steiner diesen Frühling ihre Vorstellung einer gesetzlichen Verankerung der Tagesschule vorstellte, bezeichnete sie ihren Gemütszustand als «euphorisch». Für beide und für viele andere steht fest: Die Tagesschule ist die Antwort der Volksschule auf die derzeitigen gesellschaftlichen Veränderungen und die Herausforderungen der Zukunft.

Die Stadt Zürich macht deshalb vorwärts. Bald sollen 30 von 100 Schulen nach dem neuen Modell funktionieren; nächstes Jahr können die Stadtzürcher sich dazu an der Urne äussern. Und irgendwann, ein paar Jahre nach dem optimistisch zum Namensbestandteil des Projekts gemachten Jahr 2025, sollen alle Zürcher Schulen Tagesschulen sein. Das ist immer noch ein ehrgeiziger Fahrplan, zieht man in Betracht, dass es heute im Kanton Zürich kaum mehr als ein halbes Hundert Tagesschulen gibt, von denen nur etwa die Hälfte über eine reine Addition von Unterricht und Betreuung hinausgehen.

Sand im Getriebe
Nun hat zu Beginn des Schuljahres eine vom Nationalfonds unterstützte Studie der Universität Bern etwas Sand ins Getriebe gestreut. Erst- und Zweitklässler, die eine Tagesschule besuchen, erbringen laut ihr keine besseren Leistungen und weisen kein reiferes soziales und emotionales Verhalten auf als ihre Kameraden ohne Tagesbetreuung. Nur in Mathematik zeigte sich bei Kindern aus ärmeren und bildungsferneren Familien ein positiver Effekt. Fazit der Studie: Die untersuchten Schulen aus der ganzen Deutschschweiz sind eher auf Betreuung als auf Bildung ausgerichtet. Die gezielte Förderung im Sozialverhalten oder in der Sprache, wie sie etwa in den USA praktiziert wird, findet kaum statt.

Hat Stadtrat Lauber mit «hohlen Versprechungen und geschönten Zahlen» operiert, um eine «Staatsschule à la DDR» durchzudrücken, wie die städtische SVP aus der Studie schloss? Es stellen sich zwei Fragen. Die erste lautet: Welche Erwartungen hat man an die Tagesschulen? Und die zweite heisst: Wie muss die Schule ausgestaltet sein, um diese Erwartungen erfüllen zu können?

Im Zürcher Volksschulgesetz von 2005 kommt der Begriff Tagesschule nicht einmal vor. Seine Karriere ist in der ganzen Schweiz noch jung. Die erste Tagesschule der Schweiz, jene an der Feldblumenstrasse in Zürich Altstetten, wurde 1980 eröffnet. Ursprünglich ein Postulat der Linken und der Frauenorganisationen, traten seit den 1990er Jahren auch Wirtschafts- und Arbeitgeberorganisationen sowie bürgerliche Parteien mit der Forderung nach familien- und schulergänzenden Betreuungsangeboten in Tagesschulen auf. Während in Deutschland und Österreich die schlechten Pisa-Resultate und das Anliegen der Chancengleichheit den Ausbau des Angebots an Ganztagesschulen antrieben, wurde in der Schweiz die Nachfrage nach ganztägiger Betreuung zum Motor der Entwicklung.

Pädagogischer Mehrwert
Pädagogische Überlegungen standen in den politischen Debatten nie im Vordergrund. Deshalb blieb es lange beim Nebeneinander von traditioneller Schule und Tagesstruktur mit Betreuung über Mittag und in den Randstunden, selbst wenn das Angebot unter dem Namen Tagesschule daherkam. Kritik daran entzündete sich an den zu langen Mittagszeiten, den dadurch verteuerten Betreuungskosten, den unterschiedlichen Regimen in Hort und Schule und dem ständigen Wechsel der Beziehungspersonen. Mütter wollen unbelasteten Gewissens zur Arbeit gehen. Dafür müssen sie ihre Kinder in guten Händen wissen. Betreuung aus einer Hand, heisst das Stichwort dafür.

Dass mit Tagesschulen auch ein pädagogischer Mehrwert erreichbar ist, blieb in der Öffentlichkeit zwar lange wenig beachtet, spielte in den Fachdiskussionen aber stets eine grosse Rolle: Bessere Schulleistungen namentlich der Schwächsten, mehr Integration und Chancengerechtigkeit durch gezielte Förderung und durch das Lernen voneinander waren die Erwartungen an die Verknüpfung von Unterricht und Betreuung unter der Ägide der Schule.

Nicht die Details des Angebots werden die Qualität und den Mehrwert der Schule ausmachen, sondern die enge Verknüpfung und Verzahnung von Schule und Betreuung.
Es sind diese Diskussionen um Erwartungen und Angebot, die zurzeit in den Stadtzürcher Pilotschulen, aber auch in Uster, Wallisellen und anderswo geführt werden. Wichtig ist zunächst einmal, dass sie geführt werden, und zwar im Rahmen eines gemeinsamen Gesamtkonzepts. Nicht die Details des Angebots werden die Qualität und den Mehrwert der Schule ausmachen, sondern die enge Verknüpfung und Verzahnung von Schule und Betreuung, die gemeinsame Haltung von Lehrern und Betreuern. Das aber ist ein äusserst anforderungsreiches Programm.

Mit der Formel «Staatsschule à la DDR» vertritt die Stadtzürcher SVP die traditionelle Position, dass der Staat für die formale Bildung zuständig sei, für alles andere aber die Eltern. Nicht überall, aber in vielen Städten und Gemeinden ist diese Vorstellung von der gesellschaftlichen Realität überholt worden. Dass beide Eltern berufstätig sind, ist eher zur Regel als zur Ausnahme geworden. In der Stadt Zürich rechnet man damit, dass der Anteil der auf Betreuung angewiesenen Kinder in kurzer Zeit von 50 auf 80 Prozent steigen wird. Zudem gibt es ein gesellschaftliches Interesse daran, jene Kinder, deren Eltern wegen ihrer Bildungsferne nicht die notwendige Unterstützung leisten können, auf Kurs Richtung Arbeitswelt zu behalten.

Staatliche Erziehung?
Gegen den obligatorischen Besuch der Schule haben sich Eltern vor bald 200 Jahren gewendet, weil die Kinder arbeiten sollten. Jetzt wehrt sich die SVP gegen die Verstaatlichung von Erziehungszeit. In der Tat stellt die Verzahnung von formaler Bildung und informellem Lernen in diesen Schulen die traditionelle Aufgabenverteilung zwischen Staat und Eltern bis zu einem gewissen Grad infrage. Die nun in Erprobung befindlichen Modelle tragen den Bedenken aber Rechnung: Es bleibt bei obligatorischen Kernzeiten, in die zum Teil die Mittagsbetreuung eingebaut ist. Für die Randzeiten ist das Tagesschulangebot fakultativ und separat kostenpflichtig, vielenorts zu sozial abgestuften Tarifen. Von einer übergriffigen Staatsschule sind wir weit entfernt.

Es gilt, das ganze Haus der Bildung in den Blick zu nehmen: Dieses muss fertigwerden mit äusseren Bedingungen wie rasch zunehmenden Schülerzahlen, grosser gesellschaftlicher Heterogenität, neuen Anforderungen der Arbeitswelt, aber auch einem sich wohl verschärfenden Lehrermangel und den mit der Digitalisierung verbundenen neuen Formen des Lehrens und Lernens. Wer die neuen Tagesschulen besucht, wird das grosse Engagement und die organisatorische Leistung der Lehrer- und Betreuerteams bewundern, aber auch etwas erschrecken ob des engen Geflechts von Verhaltensregeln und der aufwendigen Aufsicht. Sollen diese Schulen zum Fliegen kommen beziehungsweise die erreichte Flughöhe halten oder noch steigern können, müssen sie darauf achten, sich nicht selber zu überfordern.

Ein starker Rahmen
Man mag die Euphorie einiger Politiker belächeln. Aber mit der hohen Präsenz und der engen Kooperation von Lehrkräften und Betreuern hat die Tagesschule tatsächlich das Potenzial, mit den heute absehbaren Anforderungen an die Volksschule zurechtzukommen. Sie schafft einen starken Rahmen, der das flexible Eingehen auf neue Bedürfnisse grundsätzlich zulässt – bis zu neuen Zeitstrukturen jenseits des 45-Minuten-Rhythmus und der starren Klassen. Die Zürcher Bildungspolitik tendiert zurzeit zur Stärkung der Lernbeziehungen in den Klassen. Dieses Szenario könnte nur schon am Mangel an ausgebildeten Lehrkräften scheitern. Im Rahmen der Tagesschulen wären andere, neuen Lernformen vielleicht angemessenere Modelle durchaus denkbar, bis hin zum Rückgriff auf mehr Hilfskräfte und Spezialisten. Voraussetzung wäre dann allerdings ein Kernteam aus Betreuungs- und Lehrkräften mit hohen Pensen und grossem Engagement. Wir sprechen hier vom Potenzial der Tagesschulen. Was davon am Ende genutzt wird, bestimmen die künftigen Bedürfnisse – und die Steuerzahler.


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