20. November 2017

"Das Konzept der integrativen Schule hat breiten Rückhalt"

Im Interview sieht der Basler Bildungsdirektor Conradin Cramer keinen unmittelbaren Handlungsbedarf an der Basler Volksschule.
"Wir hören diese Kritik nicht zum ersten Mal", Basler Zeitung, 20.11. von Nina Jecker und Franziska Laur



BaZ: Herr Cramer, Ihre Angestellten sind unzufrieden, das zeigen die Lernbericht-Verweigerer aus dem Gotthelf-Schulhaus und ein Leserbrief aus dem Wasgenring-Schulhaus, der von über einem Dutzend Lehrern unterschrieben wurde. Wie reagieren Sie darauf?
Conradin Cramer:
 Wenn man solche Zeichen bekommt, ist das sehr ernst zu nehmen. Das können Alarmsignale sein. Doch ich glaube nicht, dass wir eine generelle Unzufriedenheit haben. Zumindest nehme ich das nicht so wahr, wenn ich an den Schulen bin. Ich nehme ernst, wenn Lehrer sagen, sie würden nicht gehört. Ich möchte eine Kommunikationskultur im Departement, wo jeder Kritik äussern kann und niemand Angst haben muss, wenn er sie äussert.

Doch den Medien gegenüber dürfen sich die Lehrpersonen nicht äussern?
Mir ist wichtig, dass Lehrkräfte im Schulrahmen die Möglichkeit haben, offene Fragen zu diskutieren. Eine Lehrperson kann zur Schulleitung gehen und sagen, was sie nicht sinnvoll findet und warum nicht.

Die Lehrer stört jedoch, dass die Schulleitung als Filter steht zwischen ihnen und denjenigen, die Entscheidungsgewalt haben.
Hier muss ich widersprechen: Die Schulleitungen dürfen sehr wohl entscheiden. Aber: Traditionell haben wir in unserem Bildungssystem eine sehr partizipative Kultur. Und wenn die Lehrpersonen sich nicht an die Schulleitung wenden wollen, haben sie die Möglichkeit, sich an die übergeordnete Stelle zu wenden, wie die Stufenleitung. Ausserdem gibt es am pädagogischen Zentrum eine unabhängige Beratungsstelle. Doch wenn es konkrete Beispiele gibt, wo eine Lehrperson nicht mehr weiterkommt, werde ich sicher eingreifen. Die Meinung der Lehrpersonen zählt viel. Die Lernberichte beispielsweise wurden nicht von der Verwaltung ausgearbeitet, sondern es waren viele Lehrpersonen dabei.

Haben Sie mit den Lehrern im Gotthelf- und Wasgenring-Schulhaus gesprochen? Volksschulleiter Dieter Baur hat die Lehrer über die Schulleitung gerüffelt und gebeten, solche Themen nicht öffentlich zu behandeln.
Interne Sachfragen sollten nicht über die Medien ausgetragen werden, dies hat Dieter Baur in meinem Auftrag klargestellt. Im Übrigen ist es nicht so, dass wir von dieser Kritik zum ersten Mal gehört haben. Im Gegenteil, wir haben seit vergangenem Sommer eine Arbeitsgruppe, die sich genau mit diesen Fragen auseinandersetzt. In dieser Arbeitsgruppe sind Lehrervertreter und Schulleitungsvertreter. Man arbeitet daran, diese Lernberichte besser und weniger aufwendig zu gestalten.

Trotzdem nochmals die Frage: Haben Sie mit den Lehrern dieser beiden Schulhäuser gesprochen?
Nein, ich habe nicht mit ihnen gesprochen. Ich möchte nicht nach dem Erscheinen eines Leserbriefs sogleich eingreifen. Meine Aufgabe ist, dafür zu sorgen, dass die zuständigen Leute – in diesem Fall die Volksschulleitung – diese Kritik ernst nehmen, klären, was geschehen ist und ob ein Missstand herrscht. Hier habe ich volles Vertrauen in die Volksschulleitung.

Der Leserbrief aus dem Wasgenring-Schulhaus war ja so etwas wie ein Verzweiflungsakt.
Es kann nicht sein, dass man direkt an die Medien geht mit einem Anliegen, das intern deponiert gehört. Rund um die Lernberichte gibt es viele komplexe Fragen. Das sind umständliche Vorgänge, und ich möchte da nicht handstreichartig etwas ändern.

Die Lernberichte scheinen im Laufe ihres Bestehens trotz der von Ihnen erwähnten Arbeitsgruppe komplexer geworden zu sein. Hat man sich in der Volksschulleitung nie überlegt, diese zu streichen? Dies wäre ein mutiger Schritt Richtung weniger Bürokratie.
Die Idee ist nicht, dass diese Lernberichte eine Belastung sein sollen. Sie sollen eine Rückmeldung an Eltern und Kinder geben. In welcher Form man das macht, ist eine offene Diskussion. Da bin ich auch offen für neue Ideen. Doch eine Rückmeldung an Kinder und Eltern – das ist ein Grundsatz der Schule.

Wie ist diese Arbeitsgruppe zusammengesetzt?
Sie ist zusammengesetzt aus Vertretungen der Lehrerschaft, Schulleitungen und Volksschulleitung.

In den Lernberichten gibt es auch irritierende Fragen, wie die zur differenzierten Wahrnehmung der Sinne eines Kindes. Sind solche Fragen sinnvoll?
Diese Fragen können speziell erscheinen. Vor allem, wenn man sie isoliert betrachtet. Deshalb überarbeiten wir die Formulare ja auch. Und ich habe ein grosses Vertrauen in die Lehrer, dass sie pragmatisch damit umgehen. Dafür haben wir Profis in den Schulen.

Ja, aber diese Profis sagen, es gebe zu viel Bürokratie an den Schulen. Sie könnten sich kaum mehr auf die Kernaufgabe, das Unterrichten, konzentrieren.
Das ist tatsächlich ein Problem. Doch es ist ein gesellschaftliches Phänomen, dass Eltern heutzutage von Lehrpersonen viel mehr Kommunikation verlangen. Wir versuchen, den Aufwand für Lehrpersonen in Grenzen zu halten und die Prozesse zu vereinfachen.

Ein anderer Punkt sind die Leistungschecks. 80 Prozent der Lehrerschaft haben sich dagegengestellt. Was sagt Ihnen das?
Diese Leistungschecks sind ein vierkantonales Projekt, das auf längere Zeit ausgerichtet und politisch breit abgestützt ist. Dieses Projekt muss man nun mal durchlaufen und zu Ende führen. Die Resolution nehme ich durchaus ernst, doch sie ist radikal, sie sagt alles oder nichts.

Was kann ein Schüler mit der Tatsache anfangen, dass seine Klasse weniger gut als eine aargauische ist?
Der Vergleich ist auch für die Politik gedacht, damit man sieht, wo wir im Kanton Basel-Stadt Nachholbedarf haben. Wenn wir die soziologische Struktur sehen, sind die Resultate auch durchaus erfreulich. Wir sehen, dass wir viele gute Schüler haben. Auf der anderen Seite sind jedoch auch viele Kinder mit Deutsch als Zweitsprache, und diese stehen auf der schwachen Seite. Wenn die Evaluationen zeigen, dass diese Checks zu wenig bringen für den Aufwand, müssen wir uns tatsächlich überlegen, ob wir diese noch weiterführen. Doch das machen wir nicht mitten drin im Prozess, das machen wir am Schluss.

Wann wird evaluiert?
In höchstens zwei bis drei Jahren.

Wie hoch wird dann die Meinung der Lehrer gewichtet?
Sehr hoch.

Ein solcher Leistungscheck kann auch schaden. Dann etwa, wenn das Kind ein gutes Zeugnis hat, jedoch aus einer Klasse mit eher schlechter Leistung kommt.
So kann eine objektivere Einschätzung des Zeugnisses erreicht werden. Wenn ein Kind mit einem zwar guten Zeugnis jedoch aus einer schwachen Schule eine es überfordernde Lehrstelle bekommt, ist ihm sicher nicht gedient.

Kommen wir zu einem anderen Thema. Die Integration von verhaltensauffälligen und behinderten Schülern ist ein weiterer Brandherd in der Schule. Gibt es da genügend Ressourcen?
Ja, im Moment genügen die Ressourcen. Aber in der Zuordnung dieser Ressourcen kann man sicher noch einiges verbessern. Das Konzept der integrativen Schule hat breiten Rückhalt, auch von mir. Deshalb bin ich auch der Erste, der intervenieren wird, wenn die Ressourcen nicht ausreichen.

Viele Lehrer leiden darunter, dass die Klein- und Einführungsklassen abgeschafft wurden. Anstrengend sind nicht einmal die wirklich behinderten Schüler, sondern die verhaltensauffälligen.
Wie man mit den verhaltensauffälligen Kindern umgeht, ist wirklich eine der grossen Herausforderungen der integrativen Schule. Diese werden zurzeit mit spezifischer Unterstützung begleitet, doch es gibt einen Punkt, wo es eine Belastung ist für das Kind selbst, aber auch für die anderen Kinder. Dann muss separativ geschult werden. Das tun wir auch.

Was sind das für Angebote?
Das sind Klassen der Spezialangebote, hier werden Kinder in ganz kleinen Klassen unterrichtet.

Wir hören immer wieder von Eltern, es sei schwierig, Kinder aus der Regelklasse zu nehmen. Häufig wird dies nötig, wenn es aufgrund seiner Behinderung oder Verhaltensauffälligkeit gemobbt wird. Wer beurteilt eigentlich, wer heilpädagogisch betreut wird und wer nicht?
Die Schulleitung stellt den Antrag auf verstärkte Massnahmen. Dann wird das Kind vom Schulpsychologischen Dienst abgeklärt. Und dann entscheidet die Volksschulleitung. Übrigens: Im letzten Jahr entsprachen bei rund 600 Entscheiden mehr als 95 Prozent dem Wunsch der Eltern.

Uns wurde zugetragen, dass Entscheide ohne ein Gespräch mit der Lehrperson und dem Kind getroffen wurden. Stimmt das?
Nein, das stimmt nicht. Die Lehrperson formuliert zusammen mit der Schulleitung den Antrag auf verstärkte Massnahmen. Und der Schulpsychologische Dienst spricht mit dem Kind.

Durch die Präsenz von verschiedenen Förderpersonen wird es in den Schulstuben unruhig. Was sagen Sie dazu?
Die Schule hat sich geändert, sie ist nicht mehr wie früher, wo nur eine Klassenlehrperson unterrichtete. Tatsächlich sind neben der Lehrperson zusätzliche Personen in der Klasse präsent. Das kann auch eine Bereicherung für die anderen Kinder sein. Wichtig ist, dass alle Kinder sich wohl und zugehörig fühlen und im Klassenverband bleiben können.

Kinder fühlen sich häufig blossgestellt, wenn sie sonderbehandelt werden. Schliesslich werden sie vor den Augen der anderen aus der Klasse geholt. Viele Kinder nennen das die Deppenstunde.
Dass es nicht immer einfach ist für ein Kind, das besondere Förderung braucht, ist unbestritten. Aber die Schule unternimmt alles, um Kindern mit Ecken und Kanten dieselbe Chance wie den anderen zu geben.

Es gibt auch die Idee, statt Heilpädagogen stets mindestens zwei Lehrer in den Schulstuben zu beschäftigen. Was halten Sie davon?
Das Know-how der Heilpädagogen ist unverzichtbar. Dass zwei Lehrpersonen im Teamteaching unterrichten, ist aber eine gute Idee. Das gibt es übrigens auch schon an mehreren unserer Schulen.

Ein anderes Problem, das die Lehrer beschäftigt, sind die langen Handlungsprozesse bei Problemen in einer Klasse.
Es ist stets eine Gratwanderung. Wenn Not am Mann ist, sollte man schnell eingreifen, wenn es jedoch eine dauerhafte Lösung sein soll, muss man sauber abklären, wie man sie aufgleisen soll.

Sie sagen, Sie haben der Volksschulleitung den Auftrag gegeben, abzuklären, ob an den Schulen eine offene Kommunikationskultur herrscht. Sind das die einzigen Veränderungen, die Sie bislang eingeleitet haben?
Nein, nein. Doch Sie müssen sehen, in den vergangenen Jahren hat es eine grosse Fülle an Reformen gegeben. Jetzt ist Kontinuität wichtig, man muss die Prozesse sauber und seriös anschauen, bevor man etwas ändert. Doch ich bin stets bereit, Bürokratie abzubauen. So gab es Fragebogen zu den Leistungschecks. Dort habe ich eingeleitet, dass diese nur noch zehn statt zwanzig Seiten umfassen. Natürlich sind das nicht die grossen Würfe, doch jetzt ist wichtig, dass Ruhe in die Schulen kommt, damit sich die Lehrpersonen wieder auf ihre Kernaufgabe, das Unterrichten, konzentrieren können. Ich möchte nochmals betonen, wie wichtig mir der persönliche Draht zur Basis ist. Daher mache ich auch immer wieder Besuche in den Schulhäusern.

Die Schulen Wasgenring und Gotthelf dürften zuoberst auf Ihrer Liste stehen. Dort, wo es brodelt, ist es ja am spannendsten.
Mir geht es nicht um eine Feuerwehrübung, mir geht es darum, ein Gesamtbild zu haben. Und da gibt es 50 Standorte mit insgesamt 7000 Mitarbeitenden. Ich möchte alle Standorte möglichst gleichberechtigt behandeln, denn glauben Sie mir, es gibt an allen Schulen Lehrpersonen, die genauso kritisch und mit grosser Motivation am Schulsystem mitarbeiten.

Mögen Sie kritische Lehrer?
Ja natürlich, die Schule lebt von kritischen Lehrern. Es sind sie, die kritische Staatsbürger heranziehen, Ich ermuntere auch, dass man diese Diskussionskultur lebt, aber eben, es sollte innerhalb der Schule geschehen.
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Noch eine Frage zu der Dozentenstelle, die Sie innehaben. Sind Sie mit Ihrem Departement nicht genug ausgelastet?
Doch, das bin ich. Sehr gut sogar. Mein Engagement an der Uni Basel beschränkt sich im Moment auf eine Wochenstunde. Dieser Kontakt mit den Studierenden hat für mich schon fast Erholungscharakter (lacht).
Was tun Sie mit diesem Verdienst von knapp 10'000 Franken jährlich?
Damit kaufe ich zum Beispiel Fachliteratur.


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