12. Oktober 2017

Früher war alles besser

Früher war alles besser - diese Weisheit gehört zu den beliebtesten Redensarten des einheimischen Sprachschatzes. Vor allem zu Kindheit, Jugend und Schule, aber auch zu Sport und Politik und sogar zum Wetter («weisse Weihnachten») werden unzählige Anekdoten erzählt. Fast immer trügt die Erinnerung. «Die Zukunft war früher auch besser», hat der legendäre Komiker und Schauspieler Karl Valentin gespottet.
Früher war alles besser, Basler Zeitung, 12.10. von Roland Stark


«Ich habe keine Hoffnung mehr für die Zukunft unseres Volkes, wenn sie von der leichtsinnigen Jugend von heute abhängig sein sollte. Denn diese Jugend ist ohne Zweifel unerträglich, rücksichtslos und altklug. Als ich noch jung war, lehrte man uns gutes Benehmen und Respekt vor den Eltern. Aber die Jugend von heute will alles besser wissen.»

Die pessimistische Beschreibung stammt nicht aus einer zeitgenössischen bildungspolitischen Kampfschrift der SVP, sondern vom griechischen Dichter, Ackerbauer und Viehhalter Hesiod. 700 Jahre vor Christus. Es war eine harte Zeit. Ohne Schulpflicht, ohne Schulpsychologen, ohne Frühförderung, ohne Krisenintervention, ohne Elterntaxis, ohne DIN-genormte Spielplätze. Und ohne Medien, die all die schrecklichen Leiden des Nachwuchses akribisch sammelten, zu Sensationen und Skandalen aufbliesen und verbreiteten.

Nun gibt es allerdings unbestreitbar ein paar Dinge, die früher tatsächlich besser waren und bei denen sich der vermeintliche Fortschritt zumindest teilweise als Rückschritt, wenn nicht sogar als Irrweg entpuppt.

Vor mir liegt ein Klassenfoto aus dem Jahre 1964. Hadwig-Schulhaus St. Gallen. Schon die Schülerzahl ist bemerkenswert: 35. 22 Mädchen, 13 Knaben. Spektakulär aber ist die abgebildete Lehrerschaft. Zu erkennen auf dem Bild: 1 Lehrer.

Eine vergleichbare Aufnahme wäre heutzutage nicht mehr realisierbar. Nicht nur wegen der hohen Anzahl Schüler. Klassenlehrpersonen, Mathe-Französisch-Deutsch- und Englischlehrer, Textil- und Werklehrer, Schwimmlehrer, Sportlehrer, Religionslehrer, Musiklehrer, Heilpädagogen, Assistenten und eventuell noch Hortmitarbeiter müssten mit aufs Bild. Die Zahl der Bezugspersonen an einer Primarschule kann gut und gerne zweistellig werden. Eine bedauerliche und schädliche Fehlentwicklung.

Die Gründe für die wundersame Personalvermehrung sind vielfältig. Kleine bis winzige Teilpensen, ausgeprägtes Fachlehrersystem mit extremer Spezialisierung, erhöhter Betreuungsbedarf in den heterogenen Klassen wegen der Liquidierung der Kleinklassen.
Die Nachteile liegen auf der Hand. Die Schulorganisation wird schwierig, die Stundenplangestaltung äusserst kompliziert, das Ergebnis häufig ein Flickenteppich und entsprechend pädagogisch kaum sinnvoll. Die Beziehungen zwischen Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern leiden, die Zahl der Ansprechpersonen für die Eltern ist zu gross. Der Koordinationsaufwand für Absprachen zwischen Regellehrpersonen und Förderlehrpersonen ist zeit- und kräfteraubend.


Das Engagement für kleinere Klassen ist nach wie vor sinnvoll. Ebenso die Forderung nach ausreichenden Ressourcen bei schwierigen Verhältnissen. Noch dringlicher wäre aber eine deutliche Reduktion der Anzahl Lehrpersonen pro Klasse. Die Bedürfnisse der Lehrerinnen und Lehrer sind wichtig. Ihre berechtigten und gelegentlich überrissenen Ansprüche dürfen jedoch nicht auf dem Buckel der Schüler und auf Kosten der Unterrichtsqualität verwirklicht werden.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen