8. Oktober 2017

Es lebe die Kleinklasse!

Sind unsere Lehrkräfte mit der integrativen Beschulung behinderter, lernschwacher und verhaltensauffälliger Schülerinnen und Schüler in Regelklassen überfordert? Diese Frage stellen sich im Kanton Solothurn einmal mehr Parteien und bildungsnahe Organisationen, die ihm Rahmen einer Vernehmlassung zur Speziellen Förderung und Sonderpädagogik, deren Frist am Freitag ablief, Stellung beziehen mussten.
Das Bildungsrad etwas zurückdrehen, Oltner Tagblatt, 8.10. von Beat Nützi


Es schleckt keine Geiss weg, dass das integrative Schulmodell umstritten ist, nicht nur im Kanton Solothurn, sondern landesweit. Kritik gibt es seit Jahren von verschiedenen Seiten. Es sei verfehlt, der Schule diese zusätzliche Verantwortung zu übertragen, weil sie zu einer Überlastung der Lehrerschaft und zu einer Nivellierung nach unten führe, reklamieren die politischen Gegner der integrativen Schule.

Und Lehrerverbände sowie Gewerkschaften warnen vor einem Kollaps der Schule; sie drängen vor allem auf zusätzliche personelle Ressourcen, die nötig seien, um den Unterricht in den sehr heterogen zusammengesetzten Klassen in der gebotenen Qualität überhaupt erbringen zu können.

Wohl bilden Regelklassen für Kinder mit leichten Verhaltensauffälligkeiten, Lernbeeinträchtigungen oder körperlichen Behinderungen grundsätzlich ein besseres und anregenderes Lernmilieu als Sonderklassen. Es ist aber auch nicht zu verschweigen, dass das für Kinder mit schweren Verhaltensauffälligkeiten oder starken kognitiven Beeinträchtigungen nicht gilt. So braucht es eben auch die Möglichkeit der Separation. Integration und Separation sollen sich nicht ausschliessen, sondern Hand in Hand gehen.

Erfahrungen in Oensingen

Eine spezielle Belastung haben die Schulen in den letzten Jahren durch die Aufnahme und Integration zahlreicher Flüchtlingskinder erfahren. Über entsprechende Erfahrungen berichten in der jüngsten Ausgabe der Schweizer Lehrerinnen- und Lehrerzeitung die beiden Schulleiterinnen von Oensingen, Rita Haefeli und Maja Wyss. Sie meinen: Je jünger die Kinder sind, desto leichter lassen sie sich integrieren.
Gemäss den beiden Schulleiterinnen ist die Integration am schwierigsten bei Pubertierenden, die erhebliche Leistungsdefizite aufwiesen und deshalb in der Regelstufe auf einem tieferen Niveau als die gleichaltrigen einheimischen Kinder eingestuft werden müssen. Sie sind dann erheblich älter als ihre Mitschüler und haben mit ihnen deshalb oft keine gemeinsamen Themen und Interessen.

Zu einer Überforderung von Lehrkräften kommt es laut der beiden erfahrenen Schulleiterinnen vor allem dann, wenn plötzlich mehrere Kinder in eine Regelklasse integriert werden müssen. Für diesen Fall erachten es die beiden Bildungsfachfrauen als unumgänglich, dass die Schulen – eventuell mit Nachbargemeinden – Integrationsklassen einrichten, um den Kindern zunächst ein sprachliches Fundament zu geben, bevor sie in die Regelklassen integriert werden.

Kantonale Spezialangebote

Auch die in Oensingen gemachten Erfahrungen zeigen auf: In den Schulen braucht es Integration und Separation. Heute spricht man von «Integrationsklassen» mit dem Ziel, durch individuelle Förderung Schülerinnen und Schüler für die Regelklassen fit zu machen. Früher verfolgte man dieses Ziel mit Kleinklassen und Einführungsklassen.
Es scheint, dass die Bildungsverantwortlichen des Kantons das Rad wieder etwas zurückdrehen wollen oder müssen – mit Spezialangeboten (zeitlich befristete, sonderschulische und pädagogisch-therapeutische Angebote), die der Kanton zu berappen hat, während die Regelschulen in der Hoheit der Gemeinden verbleiben.

Für Chancengleichheit

Fazit: Lehrpersonen und Heilpädagogen stossen täglich an Grenzen beim Versuch, mit integrativer Beschulung eine «Schule für alle» zu schaffen, wie sie von Politik und Wissenschaft seit Jahren propagiert wird. Viele klagen über mangelnde Ressourcen und unlösbare Aufgaben.

Ist die schöne Idee der Chancengerechtigkeit etwa eine Illusion? Wer Chancengleichheit bloss in integrativen Klassen sieht, muss diese Frage wohl bejahen. Zu verneinen ist sie hingegen, wenn für spezielle Schulförderungen auch separate Klassen vorgesehen sind. Denn gewisse Schülerinnen und Schüler können so besser gefördert werden.

Das dient dem Gebot der Chancengleichheit, nach dem alle Kinder und Jugendlichen bestmöglich gefördert werden sollen – in einer Regelklasse oder in einer separaten «Förderklasse», das heisst in einer kleinen Klasse, in der eine individuellere Förderung möglich ist.

Deshalb: Es lebe die (regionale) Kleinklasse! Überprüfenswert wäre auch die Wiedereinführung von (regionalen) Einführungsklassen, mit denen man seinerzeit eine Rückführungsquote in die Regelklassen von gegen 90 Prozent erreichte. Gibt es eine bessere Förderung?


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