24. September 2017

Umstrittener Einsatz von Tablets im Kindergarten und in der Unterstufe

«Würden Sie Ihrem sechs Jahre alten Kind erlauben, mit dem Auto durchs Quartier zu fahren, zwischendurch ein Gläschen Wein zu trinken oder einfach im Kinderzimmer zu rauchen?» Diese Frage stellt Markus Niederdorfer aus Summaprada, der auf 32 Jahre Berufserfahrung auf Primar- und Oberstufe zurückblicken kann und derzeit an der Schule Albulatal in Tiefencastel eine Realklasse unterrichtet, rhetorisch an alle Eltern von (bald) schulpflichtigen Kindern. Denn: Die Schuluhren stellen auf das digitale Zeitalter um. Bis im Sommer 2021 muss im Kanton Graubünden jedem Kind der Zugang zur virtuellen Welt im Schulunterricht ermöglicht sein. Und Niederdorfer ist es ein Anliegen, die Diskussion über die Risiken, welche die Nutzung digitaler Medien für Kinder und Jugendliche birgt, öffentlich zu führen, wie er dem BT sagt.
Risiken der digitalen Bildung, Bündner Tagblatt, 23.9. von Enrico Söllmann


Derweil hat das kantonale Amt für Volksschule und Sport seine Hausaufgaben zu den Rahmenbedingungen des digitalen Zeitalters in der Bildung gemacht. Mittels einer Handreichung hat das Amt eine verbindliche Empfehlung zum Unterrichtsbereich Medien und Informatik erlassen. Demnach haben die Schulen von August 2018 bis im August 2021 Zeit, den sogenannten Meilenstein II zu erreichen: Für die Oberstufe heisst dies: Die Schule stellt jedem Kind ein schuleigenes, mobiles und persönliches Gerät (Notebook, Smartphone oder Tablet) zur Verfügung. Die Schülerinnen und Schüler ihrerseits erledigen systematisch Aufträge und Aufgaben in allen geeigneten Fächern damit. Der Lehrplan 21 Graubünden trägt dieser Entwicklung wie folgt Rechnung: Das Fach Medien und Informatik beginnt neu bereits in der 5. Klasse und der Einsatz der digitalen Technologien soll in allen Fächern erfolgen. Durch eine entsprechende Wahlfachbelegung können weitere vier Jahreslektionen besucht werden. Spielerisch, in Einzel- und Gruppenarbeiten zur Recherche sowie zur Lösung von Aufgaben soll das Tablet im Kindergarten sowie von der 1. bis 4. Primarklasse situativ zum Einsatz kommen.

Niederdorfer beantwortet seine eingangs gestellte Frage gleich selbst: Für den Konsum für Nikotin und Alkohol sowie den Erwerb des Führerausweises gebe es Altersgrenzen. Wer gegen die Regeln verstosse, werde bestraft, so Niederdorfer. Und weiter: «Gegen die Alkohol- und Nikotinsucht geben wir Millionen für Präventionsmassnahmen aus, weil wir deren Auswirkungen auf die Person, die Familie und das Umfeld kennen.» Anders sieht es seiner Meinung nach bei Smartphones und Tablets aus, die in vielen Kinderzimmern Realität sind. Die Kleinsten würden mit einer virtuellen Realität konfrontiert, die weder deren kognitive noch emotionale Entwicklung fördere. «Schlimmer noch, die Kinder entwickeln ein Suchtverhalten und verschwenden wichtige Lebenszeit». Folgende direkte Auswirkungen macht Niederdorfer zudem aus: Kurzsichtigkeit, Hemmung der Sprachentwicklung, Rückgang des Lesens, soziale Isolation, Verlust der Fähigkeit des Mitgefühls, Sucht, Aufmerksamkeitsstörung, Dauerstress, Kopfschmerzen und Schlafstörungen. Diese Auswirkungen seien wissenschaftlich belegt. «Und was tut der Staat dagegen um die Kinder zu schützen?», fragt Niederdorfer, um gleich selbst die Antwort zu geben: «Er lanciert die digitale Bildung.» Niederdorfer untermauert seine Darstellung mit wissenschaftlichen Arbeiten. Tatsächlich hält Manfred Spitzer, deutscher Hirnforscher und Psychiater an der Universitätsklinik Ulm, fest, dass anhand vorliegender Daten klar abzusehen ist, dass die Digitalisierung von Bildungseinrichtungen sich negativ auf den Schüler, dessen Bildung, Gesundheit und Sozialverhalten auswirken werde. Er verweist diesbezüglich auf Erfahrungen in Südkorea und den USA, die sich bereits vermehrt mit Suchtproblemen, mangelnder Empathie und Depressionen von Kindern konfrontiert sehen. Andreas Schleicher, Bildungsirektor der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ) hatte der Digitalisierung  aufgrund von Studien schon 2105 ein schlechtes Zeugnis ausgestellt. Kinder, die in der Schule häufig den Computer verwenden würden, hätten bei Lernergebnissen vergleichsweise schlecht abgeschnitten. 

Ein Gewinn im Unterricht
Für Sandra Locher Benguerel, Präsidentin des Vereins Lehrpersonen Graubünden, langjährige Primarlehrerin und Grossrätin, dagegen ist es wichtig, dass digitale Medien im Schulzimmer sinnvoll und gezielt eingesetzt werden. «Gerade jüngere Kinder lernen stark durch soziale Interaktionen, diese sind besonders für die Sprachentwicklung zentral. Werden digitale Medien in Spiel- und Lernformen angewendet, so stellt dies eine Bereicherung der Lernwege in Form eines weiteren Zugangs dar.» Dies sei jedoch kein Ersatz bewährter Lernmethoden. Damit die Nutzung digitaler Medien nicht zu einer Reiz- oder Informationsüberflutung führe, würden die Schüler im Umgang mit digitalem Wissen angeleitet und begleitet werden. Ein weiteres Risiko stellt nach Meinung von Locher Benguerel der Jugend- und Datenschutz dar: «Insbesondere Jugendliche sollten darüber ausführlich informiert werden.» Die Gefahren sollen Kindern und Jugendlichen transparent aufgezeigt werden, damit der Einsatz digitaler Medien im Unterricht ein Gewinn sei.

Erwachsene sind gefragt
Für Regierungsrat Martin Jäger als Vorsteher des kantonalen Erziehungsdepartementes ist klar: «Die zunehmenden Fortschritte der Informatik sowie die neuen Nutzungsmöglichkeiten der Medien verändern unsere Gesellschaft radikal. Sie lösen in der Bevölkerung Hoffnungen, aber auch Befürchtungen aus.» Die Schule sei ebenso von dieser Veränderung betroffen wie alle anderen Bereiche der Gesellschaft. Weil die Nutzung digitaler Technologien für viele Kinder aber bereits vor der Schule «ein selbstverständlicher Teil ihrer Lebenswelten» ist, appelliert Jäger an die Verantwortung der Erwachsenen. Ohne deren Anleitung würden digitale Medien für Kinder und Jugendliche nebst den Chancen auch Risiken bergen. Es sei daher die Aufgabe der Erziehungsberechtigten und der Schule dafür zu sorgen, dass die Schüler «Mündigkeit im Umgang mit digitalen Medien erwerben». Konkret bedeutet das für Jäger: Sie sollen lernen, Medien und Informatik für ihre Zwecke selbstverantwortlich, sinnvoll und effizient zu nutzen sowie den elektronischen Technologien gegenüber Unabhängigkeit und kritische Distanz zu wahren. Unter diesen Voraussetzungen würden Geräte wie Tablets vielfältige Potenziale für Lernprozesse bieten. Dies gelte auch schon für die Kleinsten. Jäger bestätigt diesbezüglich, was in der Handreichung des Amtes für Volksschule und Sport aufgeführt wird. «Bei Kindergartenkindern steht das gelegentliche, spielerische und kreative Experimentieren mit Medien im Vordergrund, wobei der Kontakt mit Medien und Informatik stets durch geeignete Spiel- und Lernmaterialien entsteht.» 

Verbreitetes Suchtverhalten 
Peter Kamber, Präsident der Bildungskommission der Stadtschule Chur, ist sich bewusst, dass sich der Unterricht der Volksschule laut Handreichung Medien und Informatik an der Mündigkeit, der Lebensweltorientierung, dem Anwendungsbezug und der Rechtzeitigkeit orientieren muss. «Die Wirklichkeit ‘draussen’ indes ist eine andere, eine besorgniserregende», sagt Kamber, der auch Schulleiter des Oberstufenschulverbandes Mittelprättigau und langjähriger Oberstufenlehrer ist. Das Suchtverhalten der Schüler im Umgang mit digitalen Medien, namentlich mit dem Smartphone, sei weit verbreitet und ausgeprägt. Dabei würden sie unzählig viele Kontakte pflegen, aber kaum reale soziale. Solche, die eben für die kognitive, emotionale und soziale gesunde Entwicklung unerlässlich wären. «Das Risiko besteht meiner Meinung nach darin, dass wir uns von den technischen Möglichkeiten, allen Strömungen und Reformen in unkritischer Loyalität gerecht zu werden, geisseln lassen. Dabei gibt es keinerlei empirische Evidenz dafür, dass sich das Lernen mithilfe digitaler Medien verbessern würde.» Es reiche nicht, «alles» Wissen überall und jederzeit abrufen zu können – man müsse dann auch noch den Willen und die Fähigkeiten besitzen, etwas zu kreieren oder zu erarbeiten.

Das sieht auch Elisabeth Calcagnini vom Komitee der Doppelinitiative «Gute Schule Graubünden – Mitsprache bei Lehrplänen» so. Sie schreibt in einem Leserbrief: «Nach wie vor ist das im eigenen Kopf gespeicherte Wissen um vieles nützlicher und verhilft zum Verständnis von Zusammenhängen.» Denn auch Googlen sei auf solides Vorwissen angewiesen, sonst bleibe wenig bis nichts hängen.

Radikale Lösung gefordert
Die Reorganisation des Bereiches Medien und Informatik steht und fällt nach Ansicht Kambers mit der pragmatischen, stufengerechten und vernünftigen Umsetzung im Schulzimmer. Die Lehrpersonen als starkes Fundament hätten durch Vorbild, Prävention, Ordnungen, einen achtsamen Gebrauch und durch Kooperation mit den Eltern dafür zu sorgen, dass «wir nicht zum Sklaven des digitalen Fortschritts und der medialen Möglichkeiten verkommen. Vielmehr soll der Verstand den Computer und seine Verwandten zu segensreichen Dienern werden lassen.» Deshalb habe die Bildungskommission der Stadt Chur unter anderem folgendes Legislaturziel formuliert: «Dem Entwicklungsstand der Lernenden und gesundheitlichen Aspekten wird in der Computer-Nutzung Rechnung getragen.» Niederdorfer hingegen schlägt eine radikale Lösung vor. Die digitale Bildung sei von Kindergarten und Unterstufe fernzuhalten. Alles andere erachtet er «als Kapitulation vor dem Kindeswohl». Wo die Altersgrenze für den Einsatz von elektronischen Medien an Schulen zu setzen sei, müsse breit diskutiert werden. Kleine Kinder sollten stattdessen differenzierte körperliche Aktivitäten ausüben, so Niederdorfer. Sie sollten ihre Hände verwenden, um Bilder zu malen, Knetfiguren zu formen oder zu basteln. Und vor allem sollten sie herumtollen, klettern, den Wald erforschen – «also mit der wirklichen Welt in Kontakt treten».




Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen