21. September 2017

Knaben sind anspruchsvoll

Mädchen sind dem gängigen Sprachunterricht deutlich mehr zugetan. Kann unser Schulsystem nicht alle befähigen?
Vernachlässigte Knaben, NZZ, 21.9. von Natalie Avanzino

Politiker klagen, an Schweizer Gymnasien habe es zu viele Mädchen – und dass deshalb zu wenig junge Männer an die Hochschulen gingen. Bei den Knaben betrug die Maturandenquote 2016 schweizweit 16 Prozent, bei den Mädchen hingegen machten 24 Prozent die Matur. Schuld daran sei unser Schulsystem, welches zu sprachlastig und somit zu sehr auf das weibliche Geschlecht zugeschnitten sei, heisst es häufig. Doch sind Knaben in Sprachfächern tatsächlich schwächer als ihre Mitschülerinnen? Oder werden sie nicht richtig abgeholt? Wie kann man sie begeistern?

Männliche Vorbilder gefragt
Dass Mädchen seit Jahren in der Bildungsstatistik obenauf schwingen, hat den Vorstand der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren auf den Plan gerufen. Im Frühling lancierte dieser die Idee, Informatik als obligatorisches Fach in der Mittelschule einzuführen. Bis anhin wird es lediglich als Ergänzungsfach angeboten. Ende Oktober wird nun der Rahmenlehrplan Informatik erlassen, der die Grundlage für die kantonalen Lehrpläne darstellt. Die Intention ist, mehr männlichen Nachwuchs für die Gymnasien zu rekrutieren.

Den Knaben also die Informatik, den Mädchen weiterhin die Sprachen? Andrea Bertschi sieht zusätzlichen Handlungsbedarf. Die Professorin für Leseforschung, deutsche Literatur und Didaktik an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz und Privatdozentin an der Universität Basel wünscht sich eine Bildungsoffensive, die Lesen und Schreiben intensiver fördert. Gleichzeitig will sie aber das Interessenspektrum der Knaben besser integriert haben – so sollen Schulbücher sowie Lese- und Schreibaufgaben generell für alle etwas bieten, «ohne alte Rollenbilder zu verstärken».

In den Unterrichtsmaterialien finde man kaum Sachthemen, genau damit könnten Lehrpersonen aber einen Grossteil der Knaben erreichen, ist Bertschi überzeugt. Sie konstatiert: «Lesen ist nach wie vor weiblich konnotiert. Knaben definieren ihre Stärke über Mathematik oder sportliche Erfolge.» Auch seien männliche Vorbilder noch immer selten, sowohl bei den Lehrpersonen als auch in der Gesellschaft insgesamt. Anregungen aus dem familiären Umfeld und dem Freundeskreis seien jedoch äusserst relevant. «Es wirkt anders, wenn Väter mit ihren Söhnen die Bibliothek besuchen, als wenn dies Mütter tun», betont Bertschi.

Aber lernen Knaben tatsächlich anders als Mädchen? «Studien stellen grosse sprachlernbezogene Unterschiede fest», bestätigt die Expertin für Leseforschung. Eine 2015 in fast allen deutschen Bundesländern durchgeführte Studie zu didaktisch-methodischen Präferenzen im Englischunterricht brachte markante Abweichungen hervor: Viertklässlerinnen lernen «signifikant lieber» Vokabeln, lösen lieber Arbeitsblätter oder lesen lieber als ihre Mitschüler. Die Liste liesse sich noch deutlich verlängern. Die Knaben hingegen zeigen nur an zwei Methoden marginal mehr Interesse als die Mädchen: beim Hören von Texten und beim spielerischen Verbinden von Wörtern zu Sätzen. Dies unterstreicht die Befürchtung, dass sich Knaben von den gängigen Unterrichtsmethoden wenig angesprochen fühlen.

Unabhängig vom Geschlecht verfügen die meisten Kinder beim Schuleintritt über eine grundsätzliche Lernlust. «Sie wollen zeigen, was sie können», berichten viele Lehrerinnen und Lehrer. Entsprechend sind auf der Unterstufe in den Sprachfächern bei der Motivation so gut wie keine Differenzen zwischen Mädchen und Knaben auszumachen. Doch bereits in der Mittelstufe treten deutliche Unterschiede auf. Viele Knaben sind demotiviert. In der Oberstufe wird die Kluft zwischen den Geschlechtern in der Regel noch grösser – um dann nach der Pubertät wieder kleiner zu werden.

Dies führt Bertschi in erster Linie auf Rollenstereotype zurück: «Je stärker Knaben ihr Selbstbild nach fixen (männlichen) Geschlechterbildern ausrichten, desto weniger interessiert sind sie am Lesen und desto geringer ist in der Regel ihre Lesekompetenz.» Problematisch daran ist, dass fundierte Lese- und Schreibkompetenzen auch für die spätere Bildungslaufbahn relevant sind – und deren Richtung entscheidet sich in den Jahren zwischen Mittel- und Oberstufe.

Begeisterung über Inhalte
Bettina Imgrund macht unter anderem die vorherrschenden Unterrichtsmethoden für das schwindende Interesse an Sprachen verantwortlich. Die Leiterin des Fachbereichs Fremdsprachen an der Pädagogischen Hochschule Thurgau hat untersucht, was es für einen guten Französischunterricht auf der Primarstufe braucht. «Die Begeisterung für eine Sprache weckt man über Inhalte, die nah am Leben der Kinder sind und die dann zu kulturell relevanten Themen weiterentwickelt werden», sagt Imgrund. Als eines der wichtigsten Merkmale für einen qualitativ hochstehenden Unterricht bezeichnet sie die Fähigkeit einer Lehrperson, das Vorwissen der Kinder aktiv einzubinden und es in neue, interessante Zusammenhänge zu stellen, die eine Herausforderung für die Schülerinnen und Schüler darstellten. «Dazu muss die Lehrperson den Stoff verstanden haben und ihre Klasse sehr gut kennen», betont Imgrund.

Fazit für den Deutsch- und den Fremdsprachenunterricht: Knaben sind anspruchsvoll. Neben entsprechenden Rollenvorbildern aus ihrem Umfeld benötigen sie qualitativ guten Unterricht, auf sie zugeschnittene Methoden und einen etwas anderen Themenmix. Solange erheblich mehr Mädchen die Matur machen, setzt unser Schulsystem dies nicht um.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen