25. September 2017

ADHS: Ritalin kann helfen

Ein neues Schuljahr kann Schüler wie Eltern stark verunsichern. Auch deshalb, weil es allenfalls plötzlich um eine Abklärung oder Therapie des eigenen Kindergarten- oder Schulkindes geht: bei der Logopädin, der Psychomotorik-Lehrerin oder Schulpsychologin. Ein Interview mit dem Psychologen Roland Käser über die zunehmende Diagnose von Aufmerksamkeitsstörungen, das Medikament Ritalin und was Frühgeburten mit all dem zu tun haben. Roland Käser arbeitet seit Jahrzehnten im Schulpsychologischen Dienst.
"Ritalin kann ein Segen sein", Mamablog, 21.9. von Gabriela Braun


Herr Käser, sind heutige Kinder schwieriger als früher? 
Nein, das denke ich nicht. Aber die Umwelt ist komplexer und damit viel schwieriger geworden. Dazu gehört auch die Schule.

Doch Kinder halten sich im Schulbetrieb tendenziell an weniger Regeln und können sich weniger gut in die Klasse einfügen, richtig? Das hört und liest man zumindest.
Nein, dem ist nicht so. Diese Probleme sind heute klar weniger als noch vor 15, 20 Jahren. Damals wirkte die antiautoritäre Erziehung der Achtzigerjahre nach. Klar gibt es das noch, vor allem bei Migrationsfamilien. Sie verwöhnen ihre Buben häufig. Diese gelten als kleine Prinzen, die Eltern verlangen nichts von ihnen. Diese Verwöhnung widerspiegelt viele Schweizer Familien von vor 20 Jahren.

Dennoch gibt es heute mehr Kinder, die schulisch abgeklärt und therapiert werden.
Die Zunahme von Therapien hat sicher auch mit dem komplizierten Schulsystemzu tun. Früher gab es Kleinklassen, bei denen förderungsbedürftige, sogenannt «schwierige» Kinder, zusammengefasst wurden. Heute ist dem nicht mehr so. Sie werden integriert, aber benötigen oft aufwendigere sonderpädagogische Unterstützung.

Aber es werden doch allgemein viel mehr Kinder abgeklärt als früher.
Grund dafür können Konzentrationsstörungen sein, Hyperaktivität, Lern- oder Leistungsprobleme. Es ist die Aufgabe von uns Schulpsychologen, dies abzuklären. Wir tun das anhand von Befragungen, Tests und Beratungsgesprächen und können Eltern und Kindern dabei helfen, Probleme anzugehen. Jedes Kind ist anders. Tatsache ist: Es gibt immer mehr Kinder mit ADS (Aufmerksamkeitsdefizit) oder ADHS (mit zusätzlicher Hyperaktivität). Das kommt auch daher, weil immer mehr Kinder bei schwierigen Geburten gerettet werden können. Und Frühgeburten haben vermehrt Konzentrationsprobleme, das ist so. Sie sind oft kribbelig oder hyperaktiv. Für solche Kinder kann Ritalin manchmal ein wahrer Segen sein.

Weshalb?
Es hilft dem Kind, sich weniger ablenken zu lassen und seine Aufmerksamkeit gezielt zu steuern. Es kann sich besser konzentrieren und organisieren. Das bedeutet weniger Chaos in der Mappe und weniger Vergesslichkeit, was Aufträge und Hausaufgaben anbelangt. Das Kind kann mit gleichem Aufwand bessere Leistungen erbringen. Das führt zu mehr Erfolgserlebnissen, Motivation, Selbstvertrauen und Zufriedenheit.

Dennoch: Ritalin steht immer wieder in der Kritik, die UNO sprach vor zwei Jahren von einer «exzessiven» Schweizer Verschreibungspraxis.
Ja, es stimmt, dass sowohl in der Fachwelt wie in der breiten Öffentlichkeit das Thema widersprüchlich diskutiert wird. Diese Meinungsverschiedenheit ist aber auch bei anderen medizinischen, pädagogischen, aber auch technischen und wirtschaftlichen Themen verbreitet. Zudem wird Ritalin zweifellos auch missbräuchlich verwendet, nicht nur bei Kindern, sondern auch bei Studierenden, im Sport und von anderen Leistungserbringern. Diese Missbrauchsgefahr ist für mich aber kein Grund, bei klarer Indikationsstellung durch eine psychologische oder kinderpsychiatrische Fachperson darauf zu verzichten.

Was sind die Alternativen? Helfen Entspannungs- und Konzentrationsübungen?
Auch hier sind die Meinungen geteilt. Nach über 40 Jahren Berufserfahrung mit Langzeitbeobachtungen von ADHS-Kindern bin ich der Meinung, dass bei mittlerem und starkem ADS, beziehungsweise ADHS, Ritalin die bestmögliche Hilfe darstellt. Idealerweise kombiniert mit einem Coaching von Kind und Eltern. Dies wird auch durch die Forschung bestätigt. Entspannungs- und Konzentrationsübungen beim Kind können allenfalls unterstützend wirken. Oft verlangt die Erziehung eines zappeligen Kindes von Eltern sehr viel ab. Hilfe und Unterstützung sind für diese unabdingbar. Hier können Entspannungsübungen wie Yoga und Meditation helfen.

Wie können Eltern ihre Kinder unterstützen?
Indem sie dem Kind keine Vorwürfe für seine Vergesslichkeit und sein zappeliges Verhalten machen. Und sie sollen möglichst einfache und regelmässige Tagesstrukturen gestalten und diese unbedingt einhalten. Dies vermittelt dem Kind Orientierung und Sicherheit. Wichtig sind auch ausreichend Möglichkeiten zur Bewegung.

Punkto Ritalin hört man immer wieder, dass von der Schule her häufig Druck ausgeübt wird auf Eltern: Wenn das Kind keine Medikamente nehme, dürfe es nicht mehr zur Schule. Was sind Ihre Erfahrungen?
So erlebe ich es nicht. Doch man muss den Eltern klar die Zusammenhänge aufzeigen und sie auf mögliche Konsequenzen hinweisen. Zum Beispiel auf ungenügende Schulleistungen trotz guter Begabung, Verunsicherung und Schulverleider. Kann sich ein Kind partout nicht konzentrieren, können Medikamente eine Hilfe sein.


Sie nehmen selbst hin und wieder Ritalin, richtig?
Ja, auch ich habe eine Aufmerksamkeitsstörung (ADS). Im Erwachsenenalter habe ich es herausgefunden. Die Diagnose empfand ich als Erleichterung, da ich jahrelang unter den Symptomen gelitten hatte. Vor allem als Kind mit grossen Schwierigkeiten bei Konzentration und Merkfähigkeit. Zum Glück habe ich gelernt, damit umzugehen. Heute nehme ich vom Arzt verschriebenes Ritalin, etwa wenn ich längere Zeit Auto fahre. Damit bleibe ich aufmerksam.

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