Damit sie in der Schule
besser sind, erhalten viele gesunde Kinder Ritalin. Das ist wohl ein
Gesetzesverstoss.
Ritalin für bessere Schulleistungen, NZZaS, 13.8. von Katharina Bracher
Die sechzehnjährige Tochter droht wegen ungenügender Leistungen
vom Gymnasium zu fliegen. Unter der Woche schläft sie wenig und trinkt Red Bull
gegen die Müdigkeit. In der Schule kann sie sich nicht konzentrieren. Die
Eltern bringen das Mädchen zum Arzt, der überweist es in ein Schlaflabor und
von dort zum Neurologen. Dieser stellt kein medizinisches Problem fest, er rät
zu mehr Ruhe und Koffeinverzicht. Doch das haben die Eltern ihrer Tochter schon
vorgeschlagen – ergebnislos. Die Mutter fragt den Arzt nach Methylphenidat,
Handelsname Ritalin. Das Medikament wird eingesetzt zur Behandlung des
Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndroms (ADHS) und soll die
Konzentrationsfähigkeit steigern. Ob er es abgebe? Der Arzt weigert sich. Für
den Einsatz von Ritalin fehle jede medizinische Indikation; die Tochter sei
gesund. Als sich die Situation des Mädchens nach Wochen nicht verbessert,
willigt der Arzt ein, versuchsweise Methylphenidat abzugeben.
Im Beispiel aus einem Elternforum verhalten sich die Eltern und
möglicherweise der Arzt gesetzeswidrig. Das legt die Untersuchung der
Rechtswissenschaftlerin Tanja Trost nahe; sie hat in ihrer Dissertation das
Phänomen des «Cognitive Enhancement», auch Hirndoping genannt, bei
Minderjährigen aus erziehungs- und persönlichkeitsrechtlicher Sicht beleuchtet.
Die Juristin nimmt sich eines Graubereichs der Rechtswissenschaft an, der
bisher kaum thematisiert worden ist: Wie weit dürfen Eltern gehen, um ihr
Erziehungsziel zu erreichen? Dürfen sie Ritalin verabreichen, um dem Nachwuchs
schulisch auf die Sprünge zu helfen?
Trost kommt zum Schluss: «Die Verabreichung von Medikamenten wie
etwa Ritalin zur Steigerung der mentalen Leistungsfähigkeit an Minderjährige
ist nach geltendem Recht verboten.» Die Risiken des medikamentösen Hirndopings
seien viel zu hoch. «Es geht nicht um die Behandlung von ADHS, sondern um die
Verabreichung zum Beispiel von Ritalin an gesunde Minderjährige», präzisiert
Trost. Es lasse sich heute nicht sagen, in welchem Ausmass die Präparate für
Kinder gesundheitsschädigend sein können. Auch sei nicht klar, welchen Nutzen
sie tatsächlich brächten.
Wie oft Kinder und Jugendliche Ritalin oder andere «Cognitive
Enhancer» mit oder ohne vorliegende Diagnose verabreicht bekommen, ist in
keiner Statistik erfasst. Einige Daten lassen sich aber heranziehen: 1999
betrug die von Arztpraxen und Apotheken abgegebene Menge an Methylphenidat
laut der Arzneimittelbehörde Swissmedic 38 Kilogramm. 2016 waren es mit 344
Kilogramm neunmal mehr. Gleichzeitig stagnierte die Diagnosehäufigkeit von
Kindern und Jugendlichen mit ADHS bei drei bis fünf Prozent. Experten gehen
darum davon aus, dass ein Grossteil des Ritalins nicht als Medikament, sondern
als Hirndopingmittel verwendet wird. Eltern, die zu äussersten Mitteln greifen,
wenn sie den Schulerfolg des Nachwuchses gefährdet sehen, sind für Patrick
Fassbind, den Präsidenten der Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) in
Basel, gleich zu beurteilen wie solche, die ihre Kinder vernachlässigen.
«Einige bauen derart viel Leistungsdruck auf, dass das Kind Symptome einer
Erschöpfungsdepression zeigt», sagt er. «Diese Überforderung ist ein kindesschutzrechtlich
relevantes Problem wie die elterliche Vernachlässigung.» In Fällen, in denen
die Eltern ihrem Kind ohne vorliegende Erkrankung Ritalin verabreichten, um die
Leistungsfähigkeit zu steigern, sei das Kindswohl gefährdet. «Damit
überschreiten sie ihr Erziehungsermessen schwerwiegend, was die Kesb
legitimieren würde, einzugreifen», sagt Fassbind. Das geschieht nur selten.
Ob Ritalin ohne Vorliegen eines Befundes an ein Kind abgegeben
wird, liegt in der Hand der Ärzte. «Bestimmt gibt es Kinder und Jugendliche,
die Ritalin erhalten, ohne dass die medizinische Indikation wirklich gegeben
ist», sagt Alain Di Gallo, der Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für
Kinder- und Jugendpsychiatrie und Chefarzt an der Kinderpsychiatrischen
Uniklinik Basel. Ihm sei aber kein Fall bekannt, wo sich ein Arzt von den
Eltern habe überzeugen lassen, Ritalin zu verschreiben, obwohl keine Diagnose
vorliege. Für Di Gallo gilt: «Methylphenidat zu verschreiben, wenn dafür
keine medizinische Indikation gegeben ist, halte ich für nicht vertretbar.» Die
gesundheitlichen Risiken seien zu hoch; gleichzeitig seien leistungssteigernde Effekte
auf das gesunde Hirn nie nachgewiesen worden. Ein gesundes, ausgeschlafenes
Hirn brauche keine medikamentöse Leistungssteigerung.
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